EHRI-1/EHRI-2
Das VWI ist seit 2010 Mitglied eines von der EU geförderten Forschungskonsortiums. Hauptziel der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) ist es, nachhaltige Möglichkeiten der Vernetzung zu entwickeln. Dabei sollen neuartige Dokumentationsmethoden und Forschungsleitlinien zu bisher nur national genutzten Forschungsinfrastrukturen ausgearbeitet werden. In der ersten Phase von EHRI zwischen 2010 und 2014 entwarf das Vorhaben mit allen Konsortiumsmitgliedern Online-Hilfsmittel, verknüpfte Datenbanken verstreuter Archive mit holocaustbezogenen Dokumenten und entwickelte neue Forschungsthemen und mögliche Fragestellungen.
Das von 20 Forschungseinrichtungen aus zwölf europäischen Staaten – Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn – und Israel im Rahmen des 7. Förderprogramms der EU beantragte und von der Europäischen Kommission mit einer Fördersumme von insgesamt sieben Millionen Euro bewilligte Projekt schuf in seiner vierjährigen Laufzeit Strukturen für eine dauerhafte Vernetzung der europäischen Forschungs- und Archivressourcen zur Geschichte des Holocausts. Wichtigste Partner waren Yad Vashem (Jerusalem), CEGES- SOMA (Brüssel), das King’s College (London), das Jüdische Museum in Prag, das Institut für Zeitgeschichte in Berlin und München sowie NIOD, Institute for War, Holocaust and Genocide Studies (Amsterdam), das die Koordination des Gesamtprojekts innehatte.
Das VWI entwickelte im Rahmen von Work Package 2 des Projekts – gemeinsam mit dem Jüdischen Museum in Prag, der Forschungsstelle Terezín, Yad Vashem und dem Budapester Holocaust Gedächtniszentrum und in enger Zusammenarbeit mit dem Archiv der IKG Wien – einen Forschungsleitfaden für holocaustbezogene Archive jüdischer Gemeinden in Ost- und Mitteleuropa und erstellte infrastrukturelle und netzwerkbezogene Hilfsmittel für archivalische Ressourcen. Das Projekt wurde 2015 um vier Jahre verlängert.
Im Rahmen von EHRI-2 erkundete das VWI die Möglichkeiten einer Nachhaltigkeit und Erweiterung der in EHRI-1 entwickelten Infrastrukturen, aber auch Wege und Möglichkeiten, verstreute, klein und kaum bekannte, aber für die Holocaustforschung relevante Sammlungen zugänglich(er) zu machen, die Forschungsinfrastruktur um digitale Plattformen, Repositorien und Datenbanken bzw. internetbasierte Lehrpläne, Ausstellungen und Präsentationen zu bestimmten Forschungsprojekten und/oder Fallstudien in der Holocaust-Forschung zu erweitern.
Im Fokus standen dabei aktuelle Fragen digitaler Archivbestände in Mitteleuropa mit dem Ziel, Richtlinien und Verfahren auf organisatorischer und rechtlicher Ebene zur Transnationalisierung von Holocaust-Forschungsnetzwerken und -archiven zu diskutieren und zu entwickeln, wobei lokale Ansätze und regionale Aspekte der aktuellen Nutzung von holocaustbezogenen Quellen im Vordergrund standen. Die Verknüpfung solcher lokalen Ansätze mit anderen Projekten aus Mitteleuropa sollte die Schaffung eines Netzwerks von und für diese Initiativen ermöglichen, das die ethnischen, sprachlichen und/oder nationalen Grenzen überschreitet und damit die bisherigen Hindernisse für eine Öffnung von Räumen für innovative Ansätze überwindet.
Weiters wurde das Institut auch in das Fellowship-Programm von EHRI einbezogen und konnte so im Projektzeitraum acht Fellows wissenschaftlich betreuen und sie in die Forschungsarbeit des Instituts einbeziehen.
EHRI-2, in dessen Rahmen das VWI auch die Workshops Transnational meets Local: Making Holocaust Research Projects and Infrastructures Sustainable by Using Digital Archives, Electronic Repositories, and Internet Platforms on Local and Regional Levels (19./20. November 2018) sowie “It Happened Here!” Digital and Shared: Holocaust History in Public Space (1./2. April 2019) organisierte, wurde im Oktober 2019 abgeschlossen.
The People Write!
Polish Everyman Autobiography. From the Great Depression to the Holocaust
Das im Rahmen des Elise-Richter-Programmes des FWF geförderte, am Wiener Wiesenthal für Holocaust-Studien (VWI) verankerte Forschungsvorhaben The People Write! von VWI-Alumna Kate Lebow stellte in der Zwischenkriegszeit verfasste Autobiographien von Bäuerinnen und Bauern, Arbeiterinnen und Arbeitern und anderen ‚gewöhnlichen Leuten’ in Polen in den Mittelpunkt der Fragestellung: Inspiriert von der Chicago School konzipierten polnische Soziologen in den 1920er-Jahren Wettbewerbe zur Aufzeichnung von Autobiographien als eine Methode, um persönliche Narrative von Arbeitern, Bauern, Jugendlichen, Angehörigen von Minderheiten, Arbeitslosen und anderen zu erhalten.
Die besten Texte in jeder sozialen Gruppe wurden gesondert ausgezeichnet. Diese ‚polnische Methode der Sozialforschung’, wie sie international bald bekannt wurde, übertraf alle Erwartungen der beteiligten Forscherinnen und Forscher. Bis in die 1930er-Jahren hatten diese Wettbewerbe eine lebendige Kultur des Verfassens von Selbstzeugnisse hervorgebracht, die unterschiedlichste Milieus von bäuerlichen Jugendgruppen bis hin zu jüdischen Kulturzirkeln umfasste.
Mithilfe eines interdisziplinären und transnationalen Zugangs untersuchte das Projekt diese sozialen Autobiographien vor dem breiteren Hintergrund der Mitte des 20. Jahrhunderts herrschenden Faszination für dokumentarische Repräsentationen des ‚kleinen Mannes’. Nicht die Frage, was soziale Autobiographien über das Polen der Zwischenkriegszeit mitteilen können, war zentral, sondern vielmehr die Erkenntnis wie sich lokale narrative Praktiken global auswirken.
Das Projekt wurde im September 2016 abgeschlossen.
Lost in Administration
Das Forschungsprojekt Lost in Administration ist seit 2013 an der Universität Salzburg angesiedelt und verfolgt das Ziel die Lebensgeschichten von Kindern afroamerikanischer Soldaten und österreichischer Frauen sowie den (fürsorge-)politischen Umgang mit ihnen anhand von biographisch-narrativen Interviews und anhand von Recherchen in österreichischen und US-amerikanischen Archiven zu rekonstruieren.
2016 kuratierte VWI-Mitarbeiter Philipp Rohrbach gemeinsam mit dem freien Historiker Niko Wahl die Ausstellung SchwarzÖsterreich. Die Kinder afroamerikanischer Besatzungssoldaten, die von April bis August 2016 im Volkskundemuseum Wien gezeigt wurde. Die Schau, die eine sehr positive Aufnahme bei den Medien und einer breiten Öffentlichkeit fand, wurde vom VWI ebenso unterstützt, wie ein erstmaliges Zusammentreffen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner, das im Zuge der Ausstellung veranstaltet wurde.
Das VWI wird sich auch an der Organisation und der Durchführung eines wissenschaftlichen Symposiums zu der Thematik im Herbst 2017 beteiligen.
Vertreibung – Exil – Emigration
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) arbeitete bis 2014 an einem Projekt zur Aufarbeitung des Nachlasses der Rechtsanwaltskanzlei Ebner. Dr. Hugo Ebner zählte zahlreiche NS-Verfolgte, die ab 1938 wegen ihrer jüdischen Herkunft (und zum Teil auch aus politischen Gründen) aus Österreich vertrieben wurden, in Wiedergutmachungsfragen zu seinen Mandantinnen und Mandanten. Der Bestand umfasst rund 7.000 Akten, aus denen Einzelheiten der Lebensumstände, Karrieren und Biografien der Betroffenen vor und nach der Vertreibung hervorgehen. Damit können u. a. der soziale Hintergrund, die Brüche in der Biografie infolge des Zwangsexils, die genderspezifischen Aspekte des Überlebens im Zufluchtsland sowie zahlreiche andere wichtige Elemente zur Nachkriegsgeschichte des Exils quantitativ-empirisch beleuchtet, zum Teil rekonstruiert werden.
In Kooperation mit dem DÖW vertiefte das VWI im Ergänzungsprojekt Vertreibung – Exil – Emigration. Die jüdisch-österreichischen NS-Vertriebenen im Spiegel der Auswanderungskartei der IKG Wien durch eine stichprobenartige Auswertung der genannten Kartei und der dazugehörenden, im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien auf Mikrofilm vorhandenen Fragebögen die im DÖW-Projekt gewonnenen Erkenntnisse. Das Vorhaben stellte die bereits vorliegenden Resultate damit auf eine breitere methodische Grundlage. Neu war vor allem die Verknüpfung der quantitativen Ergebnisse mit der Datenbank aus dem Ebner-Projekt des DÖW sowie der ebenfalls vom Dokumentationsarchiv erstellten Datenbank der österreichischen Holocaustopfer – was eine erste Gesamtschau auf Verfolgung, Flucht und Ermordung der jüdischen Österreicherinnen und Österreicher ermöglicht.
Das Projekt wurde von der DÖW-Wissenschafterin Dr. Claudia Kuretsidis-Haider bearbeitet und 2014 abgeschlossen.