Das Lebenswerk Simon Wiesenthals als digitales Kulturerbe
Themen: Tatorte und Tatkomplexe
1945 wurde Simon Wiesenthal aus dem Konzentrationslager Mauthausen befreit. Sogleich macht er sich an eine ihn bis zu seinem Tod prägende Aufgabe – die Täter:innen des Holocaust zur Verantwortung ziehen. Dadurch sollte die Erinnerung an diese Jahrhundertverbrechen wachgehalten werden. Im Laufe der darauffolgenden 60 Jahren seines Lebens baute er eine einzigartige Sammlung an Archiv-, Bild und Tondokumenten sowie Briefen auf, die heute ein wesentlicher Bestandteil des österreichischen Kulturerbes darstellen.
Das Herzstück der Dokumentationstätigkeit Wiesenthals bilden 4.483 Falldossiers zu NS-Täter:innen, NS-Tatorten und NS-Verbrechenskomplexen. Diese wurden bis 2005 von Wiesenthal und den Mitarbeiter:innen des Dokumentationszentrums des BJVN angelegt.
Die Digitalisierung des Teilbestandes der thematischen und ortsbezogenen Falldossiers, die 1.768 Akten mit 3.993 Teilakten und ca. 130.000 Scans umfassen, stellt nun den dritten Schritt in der sukzessiven Digitalisierung des Gesamtbestandes der NS-Falldossiers dar. Zwei vorangegangene Projekte zur Digitalisierung und Erschließung der Bildquellen und den personenbezogenen Akten wurden bereits in den letzten Jahren umgesetzt. Die während dieses Projektes zu digitalisierenden Akten lassen sich dabei verschiedenen thematischen oder ortsbezogenen Schwerpunkten zuordnen. Dazu gehören etwa Opfergruppen oder andere (Täter-)Gruppen, geografisch eingegrenzte Gebiete wie Staaten, Tatorte oder Lagerkomplexe oder spezielle Themen.
Die Digitalisate werden mittels des Archivinformationsystems ActaPro erschlossen und können durch Schlagworte recherchiert werden. Der Zugang zu den Metadaten erfolgt über die Webseite des Archivs oder im Archiv selber, wo der Bestand auch eingesehen werden kann. Bei gezielten Anfragen werden Digitalisate unter Beachtung rechtlicher Einschränkungen auch an Nutzer:innen außerhalb Wiens in die ganze Welt versandt. Die Metadaten stehen parallel über das Portal der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) Holocaustforscher:innen weltweit zur Verfügung. Außerdem werden diese auch über Europeana und Kulturpool recherchierbar werden.
„Mein polnisches Tagebuch“: Ein Editions- und Erinnerungsprojekt zu den Memoiren eines Gendarmen aus Österreich im NS-besetzen Polen
Der österreichische Gendarm Adolf Landl war im Zweiten Weltkrieg im deutschen Dienst im Raum Kielce eingesetzt und berichtete ab 1941 heimlich dem polnischen Widerstand über geplante Mordaktionen gegen die polnische und jüdische Bevölkerung. Damit rettete er vielen Menschen das Leben. Unterstützt wurde er dabei von seinem Kollegen Josef Rothwein, der als Schreiber in der Gendarmerie Kielce eingesetzt war.
Im Gegensatz zu Josef Rothwein überlebte Adolf Landl den Krieg, haderte aber mit einer österreichischen Gesellschaft, in der die ehemaligen Täter sogar wieder dem Polizeiberuf nachgehen konnten. In Polen, bei den ehemaligen Partisan:innen, mit denen er brieflich Kontakt hielt, fühlte er sich besser verstanden, und besuchte 1960 sogar Łopuszno, jenen Ort hinter dem Eisernen Vorhang, in dem er ab 1941 stationiert war.
Die Memoiren Adolf Landls, die er viele Jahre nach dem Krieg unter dem Titel „Mein polnisches Tagebuch“ verfasste, schildern schonungslos den brutalen Besatzungsalltag in Polen aus der Sicht eines unmittelbar Beteiligten. Nach seinem Tod 1963 entdeckt, lösten sie staatsanwaltliche Ermittlungen in Österreich gegen ehemalige Kollegen aus, die 1969 zu einem Prozess gegen den Gendarmeriehauptmann von Kielce, Gerulf Mayer führten. Mayer wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. Im Zuge ihrer Nachforschungen ermittelten österreichische Polizeibeamte sogar mit polnischen Kolleg:innen vor Ort. Simon Wiesenthal war in die Ermittlungen zu den Verbrechen im Raum Kielce direkt involviert.
Das VWI recherchiert derzeit in Archiven in- und außerhalb Österreichs zum „Fall Landl“ und arbeitet – gemeinsam mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig – an einer kritischen wissenschaftlichen Edition der Memoiren Landls.
„Erinnerung und Imaginäres: Demokratische Bürger:innenschaft“
Das Citizen Science Forschungsprojekt „Erinnerung und Imaginäres“, gefördert durch die Top Citizen Science Förderinitiative des Wissenschaftsfonds (FWF) und in Kooperation mit Univ. Prof. Dr. Marina Gržinić (PI) und ihrem Forschungsteam (Dr. Jovita Pristovšek und Dr. Sophie Uitz) an der Akademie der Bildenden Künste Wien, erforscht mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich kritisch was es heißt, Bürger:in zu sein. Wer kann oder darf an politischer Gemeinschaft aktiv teilnehmen? Wer kann oder darf das nicht? Diesen Fragen widmen sich Citizen Scientists, Schüler:innen, Künstler:innen und Forscher:innen mit dem Ziel, gemeinsam Strategien zu finden, die diesen Zustand der Ausgrenzung zum Besseren verändern.
Ziel ist es erfahrbar zu machen, welche Rolle das Erinnern, Nacherzählen und Neuvorstellen von Vergangenheit und Zukunft für das Leben, das politische Verständnis und die Identitätsfindung in einer Gemeinschaft hat. Der besondere Fokus der Erforschung von minoritären Erinnerungen und Vorstellungen wird in intersektionaler Perspektive auf migrantische, queere und jüdische Erfahrung gelegt. Sie alle stellen auf ihre eigene Weise Geschichten der Ausgrenzung und des Ausschlusses aus der österreichischen Mehrheitsgesellschaft dar.
Das Projekt verfolgt einen methodisch-theoretisch neuen Ansatz, der Citizen Science und kunstbasierte Forschung vereint. Im Mitforschzeitraum von Mai bis Juni 2022 finden angeleitete “Memory Labs” statt, in denen das Thema gemeinsam bearbeitet und erfahrbar gemacht wird z.B. durch Rap-Poetry, durch performatives Erzählen, durch das Medium Zeichnung sowie durch von Objekten inspirierten Austausch und Diskussionen. Die Labs werden jeweils künstlerisch begleitet und mittels Graphic Recording sowie mittels stenografischer Protokolle dokumentiert.
Seitens des VWIs nimmt Dr. Mirjam Wilhelm als Expertin an diesen “Memory Labs” teil und wird materialbasiert ihre Forschungen zur ‘vergessenen’ jüdischen Künstlerin Vjera Biller diskutieren, deren Leben und Arbeiten ein emblematisches Geschichtsbeispiel von multipler Marginalisierung und Ausgrenzung darstellen: als Frau, als Künstlerin, als Jüdin, als vermeintliche ‚Geisteskranke‘ und Homosexuelle und, schließlich, als vom NS-Regime Verfolgte.
„Erinnerung und Imaginäres“ wurde für die Teilnahme am Citizen Science Award 2022 des OeAD nominiert. Die Ergebnisse des Projekts werden in einer gleichnamigen begleitenden Buchpublikation gebündelt und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieses multimedial gestaltete Buch wird die künstlerische Dokumentation der „Memory Labs“ enthalten, ergänzt durch wissenschaftliche Beiträge der involvierten Forscher:innen und Citizen Scientists.
Prof. Dr. Éva Kovács und Dr. Mirjam Wilhelm betreuen das Projekt am VWI.
Die ‚unsichtbaren‘ ÖsterreicherInnen
Selbstbilder, Fremdbilder und gesellschaftliche Stellung von Kindern schwarzer US- amerikanischer Besatzungssoldaten und österreichischer Frauen
Die ‚unsichtbaren‘ ÖsterreicherInnen ist ein Dissertationsvorhaben, das aus dem – von 2013 bis 2018 an der Universität Salzburg angesiedelten – Forschungs- und Ausstellungsprojekt Lost in Administration/SchwarzÖsterreich hervorgegangen ist und auch maßgeblich vom Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) mitgetragen wurde.
Lost in Administration verfolgte das Ziel durch biographisch-narrative Interviews und Quellenrecherchen in österreichischen und US-amerikanischen Archiven die Lebensgeschichten jener Personengruppe zu erforschen, die zwischen 1945 und 1956 als Kinder schwarzer GIs und österreichischer Frauen geboren wurden. Archivstudien sollten dabei helfen, den Umgang österreichischer und US-amerikanischer Behörden mit ihnen zu rekonstruieren.Im Rahmen der Projektrecherchen zu Tage geförderte Quellen und Dokumente flossen in wissenschaftliche Aufsätze ein; des Weiteren wurden thematisch relevante Inhalte durch Zeitungsartikel sowie die im Jahr 2016 am Volkskundemusem Wien gezeigte Ausstellung SchwarzÖsterreich. Die Kinder afroamerikanischer Besatzungssoldaten an eine breitere Öffentlichkeit vermittelt.
Eine tiefgehende wissenschaftliche Auswertung der Interviews und Dokumente erfolgt im vorliegenden – am VWI und Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien angesiedelten – Dissertationsvorhaben von VWI-Mitarbeiter Philipp Rohrbach.
Ein Großteil der Kinder schwarzer US-amerikanischer GIs und österreichischer Frauen, die im ‚weißen‘ postnationalsozialistischen Österreich aufwuchs, musste ihr Los individuell, ohne Referenzgruppe meistern. Diese Kinder wurden so zu einer zwar physisch sichtbaren, letztlich aber doch ‚unsichtbaren‘ Bevölkerungsgruppe, die auch von der österreichischen Geschichtsschreibung die längste Zeit ausgeblendet blieb. Anhand einer Feinanalyse von drei biographisch-narrativen Interviews, die den Kern des vorliegenden Dissertationsvorhabens darstellen, werden die Selbstbilder in den Erzählungen von Mitgliedern der genannten Personengruppe untersucht. Ergänzend dazu werden in der Dissertation auch die häufig stereotypisierenden Bilder analysiert, die JugendamtsmitarbeiterInnen aus Oberösterreich, Salzburg und Wien (ehemalige US-amerikanische Besatzungszone Österreichs) in ihren Akten von österreichischen Kindern schwarzer GIs zeichneten. Wo es für ein besseres Verständnis der aus den Interviews und Akten herausgearbeiteten Inhalte erforderlich ist, werden in dem Dissertationsvorhaben Aspekte des (fürsorge-)politischen Umgangs mit dieser Personengruppe nach 1945 rekonstruiert.
Das Dissertationsprojekt wird von ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher und Univ. Prof. Dr. Albert Lichtblau betreut und entsteht im Zusammenarbeit mit dem Forschungsschwerpunkt Frauen- und Geschlechtergeschichte der Historisch- Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.